Das Leben ist wie Tetris, spiele es nicht wie Schach

Gepostet am 09 February, 2017

Maria Steingass

Redaktion

Seit ich sieben Jahre alt war, habe ich ständig Schach auf Wettkampfniveau gespielt. Ich spielte es sowohl in der Schule, als auch Online und auf nationalen Schachwettbewerben. Schach hat mir Geduld, Beharrlichkeit und kritisches Denken beigebracht ? das sind wichtige Fähigkeiten, um mit schwierigen Problemen und Situationen des Lebens umgehen zu können.

Ich wuchs mit dem Schachspiel auf. Es lehrte mich viel über Wettbewerb - und viele falsche Lektionen über das Leben

Seit ich sieben Jahre alt war, habe ich ständig Schach auf Wettkampfniveau gespielt. Ich spielte es sowohl in der Schule, als auch Online und auf nationalen Schachwettbewerben. Schach hat mir Geduld, Beharrlichkeit und kritisches Denken beigebracht ? das sind wichtige Fähigkeiten, um mit schwierigen Problemen und Situationen des Lebens umgehen zu können.

Durch Schach kam ich in jungem Alter zum kausalen Denken: Wenn ich den König hierhin ziehe, blockiere ich seinen Läufer; wenn ich diesen Bauern schlage, schwäche ich seinen rechten Flügel. Jeder richtige Zug brachte mich näher daran, den Gegner matt zu setzen; jeder falsche Zug brachte mich der Niederlage näher.

Schach ließ mich ebenfalls mit der Idee des „Anderen“ Bekanntschaft schließen: also Schwarz gegen Weiß und unsere Schule gegen ihre Schule. Und jedes Spiel war ein Nullsummenspiel ? es gab nur einen zu vergebenden Punkt. Dieser Punkt wurde entweder geteilt oder einem der Gegner vollständig gut geschrieben. Eine Möglichkeit die Punkte zu vermehren, war nicht vorgesehen.

Schach habe ich sehr ernsthaft bis zum Alter von 15 Jahren gespielt. Um diese Zeit herum bekam ich dann mein erstes Handy. Es war für mich als Teenager ein Symbol der Freiheit, auch wenn ich nicht besonders viel Gebrauch davon machte. Ich erinnere mich gut an das Ding ? es war ein kleines Klapptelefon mit Farbbildschirm. Ich trug es als Symbol meiner Unabhängigkeit überall mit mir herum. Dabei konnte ich damit nicht einmal ins Internet gehen oder Snapchats verschicken, aber ich bemerkte dass es die Langeweile mit einem der eingebauten Spiele vertreiben konnte: mit Tetris. Und danach wurde ich süchtig.

Für einige ist Tetris die vollkommene Verkörperung der Frustration. Denn das Spiel ist sehr repetitiv und man kann es nicht gewinnen. Zudem wird es durch den Glücksfaktor bestimmt.

Aber für mich wurde es zur wahren Personifizierung des Lebens

. Gegen Tetris ist Schach nur ein blödes Kriegsspiel.

Ich spiele Schach nicht mehr auf Wettkampfniveau. Bis heute ist aber Tetris das einzige Spiel, das ich auf meinem Mobiltelefon habe. Es befindet sich auf dem Startbildschirm, als ständige Erinnerung daran, dass das Leben wie Tetris und nicht wie Schach ist.

Ich möchte meine Auffassung anhand vier einfacher Punkte klar machen. Vielleicht haben Sie das Spiel auch falsch gespielt?

1. Im Leben hat man nur sich selbst als Gegner.

Als ich jung war, hielt ich nach Gegnern Ausschau ? Leute, mit denen ich kämpfen konnte, die ich beschuldigen konnte, die ich des Irrtums überführen konnte. Ich stellte mir Feinde vor, auch wenn es keine gab. Denn zu kämpfen war leicht. Ich betrachtete alles als Nullsummenspiel, während es doch so viel mehr zu gewinnen gab.

So ist die Denkungsweise des Schachspiels. Und sie vermindert die eigenen Fähigkeiten.

Bei Tetris dagegen spielt man nur gegen die Zeit und den nicht endenden Fluss der von oben nach unten fallenden Steine. Das Bewusstsein ist nach Innen gerichtet ? man fordert sich selbst heraus, den kontinuierlichen Imput-Strom in die richtige Reihenfolge zu bringen. Es gibt dabei keinen Endgegner. Niemanden, den man die Schuld geben kann.

Das tatsächliche Spiel des Lebens geht vollständig im Inneren vor sich.

Es gibt keine großen, bösen Feinde, deren einziges Ziel es ist, einen leiden zu lassen. Es gibt keinen definitiv richtigen oder falschen Zug, um einen bestimmten Gegner zur Strecke zu bringen. Und der Punktestand kann bis ins Unendliche gehen, wenn man sich stärker bemüht. Der Punktestand des Lebens kann sich schnell oder langsam vermehren, je nachdem wie sehr man sich anstrengt. Was mich dazu bringt...

2. Das Leben wird nicht schwieriger, nur schneller.

Einige Spiele werden schwerer, je länger man sie spielt. Dazu zählt auch das Schachspiel. Die Stellungen werden komplizierter, die Gegner herausfordernder, die Einsätze höher. Man hat ein öffentliches Rating und daher mehr zu verlieren, wenn man erneut gegen dieselben Gegner antritt.

Nicht so bei Tetris. Denn das Spiel bleibt dasselbe ab dem ersten Stein, bis man keinen Platz mehr auf dem Bildschirm hat. Das einzige, was sich daran ändert, ist die Geschwindigkeit.

Wenn Sie Tetris den Rest Ihres Lebens auf der langsamsten Stufe spielen, verlieren Sie vielleicht nie. Der einzige Gegner ist die Ermüdung. Denn der Algorithmus, um Tetris zu meistern ist nicht schwierig und Sie haben sehr viel Zeit, um die Steine auf die besten Plätze zu verschieben.

Mit Tetris fordern wir uns selbst heraus. Wir stellen uns nicht damit zufrieden, nur eine Reihe zur selben Zeit fertig zu stellen. Wir machen es uns zur Aufgabe ein Tetris zu machen, also vier Reihen auf einmal. Das ist der Name des Spiels. Warum sollten wir es überhaupt spielen, wenn wir nicht darauf abzielen?

Lange habe ich das Leben wie ein Schachspiel behandelt ? wie eine lange Reihe immer schwerer Herausforderungen. Ich erfand Probleme dort, wo keine waren und entwickelte ein Opferbewusstsein. Aber das Leben wird nicht schwieriger je länger man spielt! Denn wenn wir älter werden erwerben wir mehr Vermögen und Weisheit. Dadurch wird unsere Unabhängigkeit größer. Wir müssen keine neuen Herausforderungen annehmen. Aber wenn wir nach Erfüllung im Leben suchen, sollten wir uns dafür entscheiden, genau das zu tun.

Aber das Leben wird schneller. Jeder Tag unseres Lebens stellt einen kleineren prozentualen Anteil an unserer gesamten Lebenszeit dar und daher erleben wir die, als wenn sie schneller liefe. Unsere Verantwortung wächst bis zu dem Punkt, an dem wir eigentlich angenehme Aufgabe als Störung oder geistlose Ablenkungen betrachten.

Der einzige Weg das Leben zu meistern ? wie bei Tetris ? ist es, mit gleich bleibender Kontrolle mit höherer Geschwindigkeit zu spielen.

Sie können Ihre Ziele nicht in Frage stellen, egal mit welcher Geschwindigkeit Sie vorgehen. Sie müssen Ihr eigenes Bewusstsein, Ihre Gewohnheiten und Ihre eigene Zeit unter Kontrolle behalten. Was uns dazu führt...

3. Im Leben kontrollieren Sie nicht das Schachbrett.

Wie ich schon sagte ist Schach kausal. Es gibt einen besten Zug für jede gegebene Stellung. Man kann seinen Gegner in die Ecke drängen. Wenn man ein Superhirn ist, kann man 20 Züge voraus berechnen.

Das Schachspiel verfügt über eine Anzahl fester Rezepte und Praktiken. Der erste Zug 1. e4 wird für Weiß als starker Eröffnungszug angesehen, der Zug 1. h3 dagegen nicht. Das liegt daran, dass Schach ein in sich geschlossenes System ist. Es gibt keine zufällig auftretenden Einschränkungen, keinen Glücksfaktor. Die Figuren ziehen immer auf die gleiche Art und die Startposition aller Figuren ist immer dieselbe.

Und bei Tetris? Man weiß nur, welches der nächste Stein ist. Man spielt für den gegenwärtigen Moment, während man versucht, die Steine auf bestmögliche Weise aufeinander zu stapeln und obwohl man weiß, dass man nicht einmal die nächsten zwei fallenden Steine vorhersagen kann. Man wird deshalb nicht dazu verleitet, zu glauben, man könne die Zukunft kontrollieren.

Ich habe zuviel meiner Lebenszeit mit der Einstellung eines Schachspielers verbracht und deshalb versucht, den bestmöglichen Zug zu machen oder den Weg zu einem vorherbestimmten Ergebnis zu finden. Ich war dazu gestimmt, überall um mich herum die Kausalität am Wirken zu sehen und zu versuchen, die Kontrolle über sie zu gewinnen.

Aber das Leben ist nicht kausal. Es gibt in ihm immer eine Vielzahl möglicher Ereignisse. So ereignen sich Dinge, die nur einmal in einer Milliarde Fälle passieren. Es gibt keine direkte, vorhersagbare Antwort auf unsere Züge. Unser Leben ist ein offenes System, in dem jedes unvorhersehbare Ereignis unsere Sicht und unsere Perspektive in wenigen Augenblicken verändern kann. Sogar die wichtigsten Entscheidungen des Lebens sind kaum berechenbar ? genau deshalb enden viele Ehen mit einer Scheidung.

Versuchen Sie also nicht, zu erraten, welche Steine als nächstes kommen, wenn Sie Ihre Leben verbessern wollen. Wie bei Tetris

können Sie sich selbst in die bestmögliche Position versetzen, ohne zu versuchen, das gesamte System des Spiels zu kontrollieren.

Kontrollieren Sie sich vor allem selbst und stellen Sie sich den Herausforderungen ? versuchen Sie also ernsthaft ein Tetris zu gewinnen ? aber erwarten Sie keine Belohnung dafür, dass Sie es geschafft haben.

4. Im Leben sagt einem niemand, dass man gewonnen hat.

Beim Schach kommt es vor, dass der Gegner seinen König zum Zeichen der Aufgabe umkippt. Die letzten Turnierergebnisse werden veröffentlicht. Man empfindet Siegesfreude ? bis sie eines Tages ausbleibt.

Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich mit Schach aufgehört habe. Es war nicht so, dass ich geschlagen wurde und aus Enttäuschung aufgehört habe. Im Gegenteil, ich hatte das Turnier sogar gewonnen. Aber danach fühlte ich nichts.

Den uralten Regeln des Schachspiels entsprechend gibt es ja nur zwei Arten zu verlieren ? Matt gesetzt zu werden oder aufzugeben. Aber an dem Tag, an dem ich mit Schach aufhörte, fand ich eine weitere. Wenn ich nicht dazulerne und wenn mir der Kampf und Sieg keine Freude mehr bereitet, dann habe ich schon verloren.

Die Entscheidung, das Schachspielen aufzugeben war für mich befreiend, aber gleichzeitig auch schrecklich und verwirrend zugleich. Warum fühlte ich mich denn so befreit, nachdem ich das erste Lieblingsspiel meines Lebens aufgegeben hatte? Aber es aufzugeben fühlte sich aus demselben Grund so gut an, wie es anzufangen ? weil es vollständig meine eigene Entscheidung war. Und als ich es aufgegeben hatte, begann auch meine auf den Wettbewerb fixierte, kausale Schachdenkungsweise sich mit der Zeit allmählich abzuschwächen und meine Sichtweise klärte sich schließlich insgesamt auf.

Unterdessen nahm Tetris die Leerstelle ein, die Schach offen gelassen hatte. Ich spiele Tetris jeden Tag. Und an jedem Tag weiß ich, dass ich das Spiel nicht gewinnen kann. Wie lange kann ich spielen, bis ich verliere? Wie schnell werden die Steine kommen? Wie viele Punkte werde ich erzielen? Das sind die Rahmenbedingungen, die das Spiel setzt. Aber ich habe eine neue Art zu gewinnen hinzugefügt ? wenn ich Tetris jeden Tag spiele.

Ich freue mich, dass ich keine Kompromisse bei den Zielen, die ich mir setze, eingehe. Ich empfinde große Befriedigung dabei, zu wissen, dass ich mir jederzeit neue Ziele setzen und sie angehen kann. Ob ich meine Ziele dabei erreiche, weiß nur ich selbst.

Jeden Tag Tetris zu spielen erhöht meine Entschlusskraft, meine Zielgerichtetheit und meinen Durchhaltewillen bei Angelegenheiten, die, wie mir klar ist, keinen eindeutigen Ausgang haben.

Deshalb spiele ich nicht um zu gewinnen ? sondern um zu spielen.

· · ·

Wir alle sollten unser Leben spielen, um zu spielen. Wir sollten dabei nicht nur nach Feinden suchen oder danach streben, die Kontrolle zu gewinnen.

Es ist wichtig, zu verstehen, dass es einfach eine Frage der Perspektive ist. Schach kann ein sehr einsames Spiel sein ? das kann Tetris aber eben so sein. Beide Spiele erfordern Geduld und Entschlusskraft. Beide erfordern einen offenen Geist.

Nur Sie allein entscheiden, wie Sie das Spiel Ihres Lebens spielen. Spielen Sie das richtige Spiel!

Tor Bair

Kommentare: